Silke Miche

Katalog zur Ausstellung „VOIDS“ 2021
Malerei | Grafik

21×21 cm, 48 Seiten, Softcover
10,- €

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VOIDS

„Voids“ – englisches Substantiv, Plural. Deutsch:  Hohlräume, Lücken, Leerräume.

Auf der Fahrt in das vom Berliner Senat geförderte Atelier von Silke Miche sah man diese „voids“ so gut wie kaum. Im ehemals grünen Umland der Hauptstadt musste jeder naturnahe „Leerraum“ einer grauen, betonierten, einheitlichen Masse weichen.

Selbstredend wird diese Empfindung auch von der jeweiligen Witterung beeinflusst, denn so farbgewaltig, wie die Gebäudefassaden in Miches Gemälden leuchten, sieht man den Berliner Gesundbrunnen kaum. „Berlin ist keine Stadt, Berlin ist ein Phänomen“, rekapitulierte einst der Berliner Künstler Wolf Vostell.[1] Und tatsächlich, Berlin hat seine Reize. Miches Gemälde, auch wenn nicht im Titel lokalisiert oder im Motiv topografisch genau erkennbar, verdeutlichen ein großstädtisches Antlitz mit Vielseitigkeit, aber auch struktureller Ordnung und Reduktion. Geometrisch exakt, ziehen sich Häuserfluchten über die Leinwände, so stark abstrahiert wie nötig und doch so realistisch, dass keine Gesetze der Perspektive verletzt werden.  Spannend zu beobachten, welch einer Ordnung und Struktur eine Stadt, wie Berlin, folgen kann. War es einst die individuelle ortsgebundene Erscheinung, die die Vedutenmalerei beflügelte, so ist es heute die Einheitlichkeit der Architektur, die anonymisiert und das Experimentelle in der Malerei herausfordert.  „Gerade die zunächst unspektakulär erscheinende Bauweise der Moderne mit ihren seriellen Elementen reizt Miche zu einer Transformation in die Malerei“, bemerkte Dr. Janina Dahlmanns.[2] So gesehen stehen viele von Miches Arbeiten in einer langen Tradition der Berliner Stadtansichtsmalerei. Sie dokumentiert Quartiere, die in ihrer äußeren Erscheinung einen ungeheuren Wandel erlebt haben. Im Falle vom Gesundbrunnen und Wedding nahm dieser Wandel seinen Ursprung bereits 1861 mit der Eingemeindung nach Berlin. Der anhaltenden Landflucht und der voranschreitenden Industrialisierung, folgte eine dichte Bebauung mit Fabrikhallen sowie mehrgeschossigen Wohnhäusern mit engen Hinterhöfen. Die Motivmöglichkeiten, die sich der Künstlerin heute noch bieten, sind die gleichen, lediglich der Architekturstil hat sich hier und da verändert. Die engen Mietskasernen wichen den Wohnhochhäusern der Nachkriegsmoderne. Stahl, Beton, geometrische kantige Formen – Serien und Reihen gestapelt.

Auch gesellschaftliche Parallelen zwischen der Zeit am Ende des 19. Jahrhunderts und dem Anfang des 21. Jahrhunderts sind in Bezug auf die sozialen Probleme erkennbar.[3]  So verbergen sich hinter jeden der zahlreich dargestellten Balkone individuelle Wohneinheiten. Regelrechte unsichtbare Menschenmassen auf einer Malerei, die keine Menschen zeigt. Miche stellt das Alltägliche auf unheimlich sensible Art dar. Der Überfluss an Bauelementen verbirgt mit seiner Ordnung und Struktur die Unruhe, die sich in einer Metropole eigentlich überschlägt. „Voids“ findet man auf den Bebauungsplänen der Städte nämlich eigentlich nicht. Die im beschaulichen Nordhausen geborene Silke Miche studierte von 1997 bis 2004 Malerei und Freie Kunst an der Kunsthochschule Berlin Weißensee. Was also die motivische Bandbreite angeht, kann Miche bereits auf eine lange „Berlin-Erfahrung“ zurückblicken.

In der geometrischen Genauigkeit und dem Wechselspiel zwischen flächigen Farbauftrag und Linearität erkennt man auch den Einfluss ihres Lehrers Hanns Schimansky. Beide Künstler schaffen auf unterschiedliche Weise eine plastische Dimension – Miche mit ihren immer wiederkehrenden Stapelungen und Gitterrastern und Schimansky mit seinen Papierknickkanten, den sogenannten „Faltungen“. Die Arbeitsweise Miches wirkt aber noch komplexer. Grelle Farbschichten, aneinandergereiht und chirurgisch, präzise voneinander getrennt, treffen auf pastellfarbene, matte Töne oder gar auf farblose Leerräume. Frühere Farbschichten schimmern opak durch später aufgetragene Farbflächen hindurch. Neben den akkurat gesetzten Pinselstrichen, beschädigt Miche andere Bereiche, in dem sie wie ein Bildhauer Material entfernt. Kratzend, schabend oder auf den Zufall vertrauend mit aufgesetzten Klebestreifen, an denen Farbreste hängen bleiben, verschwinden und entstehen aufs Neue die Bildebenen, die die Malerei letztlich zur Vollendung führen.  „Voids“, demnach auch ein Bezug auf die technische Herangehensweise Miches.


Christian Köckeritz
 

[1] W. Vostell, In: Kat. Vostell. Retrospektive, Berlin 1975.

[2] Dahlmanns, Janina, In: Kat. Silke Miche. Konstellationen, Berlin 2019, S. 2.

[3] Vgl. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen: Monitoring Soziale Stadtentwicklung 2017, unter:  https://www.stadtentwicklung.berlin.de (abgerufen am 09.01.2021).