Katalog zur Ausstellung „anderseits“ 2020
Druckgrafik
21×21 cm, 72 Seiten, Softcover
10,- €
Gebäudekomplexe verschwinden, die Straßen werden unebener und Menschen sind nur noch wenige zu sehen. Und das in einer Kulturlandschaft, in einer Region, die durch den Menschen erst urbar gemacht wurde, einer Landschaft, die es ohne den Menschen in ihrer heutigen Gestalt nicht geben würde. Es ist sicher kein Zufall, dass sich ausgerechnet im Oderbruch Künstler ansiedeln.
Vielleicht wollen sie der Landschaft etwas zurückgeben? Vielleicht kommentieren die Künstler mit ihrer Anwesenheit erst den Begriff Kulturlandschaft? Sicher ist diese Region von einem Geben und Nehmen bestimmt. Ruhe, Geborgenheit aber auch Abgeschiedenheit und Freiheit, die in dieser landwirtschaftlich geprägten Umgebung einen kreativen Schaffenspunkt lokalisieren. Die Künstlerin Sophie Natuschke lebt seit 1979 im Oderbruch. Nicht in der Oderbruch-Metropole Seelow, sondern in der scheinbar grenzenlosen Weite der Güstebieser Loose. Hier werden die Straßen sogar noch unebener und die Landschaft noch weiter. Jeder Besuch bei Sophie Natuschke ist heilend. In kürzester Zeit scheinen Hektik und Stress verschwunden zu sein. Fast widersprüchlich wirkt die Beschreibung einer Agrarlandschaft als wild und natürlich, als beruhigend und friedvoll. Und dennoch, jeder Gast auf ihrem einsam liegenden Gehöft, teilt Natuschkes Gefühl der Geborgenheit. Das Schroffe und Unbändige, aber auch Verständnisvolle und Einladende des Oderbruchs formt sicher auch dessen Bewohner. Natuschkes Begeisterung schlägt auf jeden Besucher über, plötzlich geht es nicht mehr ausnahmslos um Kunst, nein es geht um die Kraniche, um Biber und um blütenreiche Trockenrasen. So vielseitig die Landschaft ist, so vielseitig ist auch die Kunst, die dort geschaffen wird. Die Ausstellung von Sophie Natuschke in der Kunstgalerie im Alten Rathaus möchte versuchen, sowohl die Begeisterung für die Landschaft und die Natur, als auch die Vielschichtigkeit der künstlerischen Inhalte zu transportieren. Der Titel „Anderseits“ deutet bereits auf die Kontraste hin. Anderseits bedeutet es gibt noch mindestens eine weitere Seite! Topografisch leicht nachzuvollziehen, schlängelt sich die Oder doch zwischen zwei Ufern entlang? Was trägt der Titel aber in die Ausstellung? Es sind die unterschiedlichen Reihen und Serien der gezeigten Werke. Die ausgestellten Arbeiten konzentrieren sich auf eine Schaffensperiode von sechs Jahren. Die jüngsten Werke sind erst in diesem Jahr entstanden. Einige Serien sind abgeschlossen, bereits durch die Vergänglichkeit des Motives heraus, andere Arbeiten werden thematisch, kontinuierlich wachsen und einige Werke erklären ihre Berechtigung bereits aus gegenwärtigen Ereignissen heraus. Und immer überlässt es die Künstlerin allein dem Motiv eine ursächliche Verknüpfung von Vorstellungen beim Betrachter hervorzurufen. Sophie Natuschke erinnert an aktuelle Tendenzen in Politik und Gesellschaft, die unweigerlich fern oder nah jeden Menschen betreffen werden.
In ihrer Serie „will kommen – chcu přińć“ drückt Natuschke explizit eine dieser aktuellen Tendenzen aus. Die Dualität wird bereits im Titel deutlich. Will kommen, meint „ich will kommen“ oder präzisiert der Begriff das freundliche Empfangen von Ortsfremden? Die mehrfarbigen Gummidrucke führen den Betrachter einer Parabel gleich in die gegenwärtige Zeit und zu aktuellen Begebenheiten. Dargestellt sind nichtdomestizierte Tiere, die zur eigentlichen, wildlebenden (deutschen) Fauna nicht (mehr) gehören. Wisente, Elche und Wölfe, die in einer Kulturlandschaft und einem verhältnismäßig engbesiedelten Land, wie Deutschland keinen Platz mehr haben. Wir erinnern uns noch an das Jahr 2017, als ein Wisent die Oder durchschwamm und auf deutscher Seite zum Schutze der Bevölkerung erschossen wurde. Diskussionen zu dieser Problematik gab es viele. Inhaltlich verzerrt und propagandistisch ausgenutzt sollten freundschaftliche deutsch-polnische Beziehungen mit diesem Wildtier zu dem gestört werden. Polnische Nationalisten kommentierten den Abschuss sogar mit „Den Wisent haben sie erschossen, aber mit den Flüchtlingen werden sie nicht fertig“[1]. Doch das Wisent blieb nicht der einzige „Fremde“, der von Osten kommend deutschen Boden betrat. Als einen „schweren Umgang mit dem Fremden“[2] untertitelt die Künstlerin ihre Druckgrafikserie, in der die Tiere als Metaphern verwendet werden und der Betrachter aufgefordert ist die heutige politische Lage zu hinterfragen.
Deutlicher verhält es sich mit den Grafiken, die Landschaft darstellen. Das Oderbruch lädt geradezu ein, gestalterisch tätig zu werden. Ob figürlich oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Nicht zuletzt der schroffen landschaftlichen Eindrücke wegen, entschieden und entscheiden sich Bildende Künstler für diese Abgeschiedenheit. Der Havelländische Künstler Karl Hagemeister sagte einst: „Wer Landschaften malt, muss sich aufhalten, wo die Landschaft ist; […].“[3] Sophie Natuschke taucht in diese Landschaft ein, sie entdeckt und gibt in flüchtiger reduzierter Form wieder, was sie vorfindet. Es handelt sich um einen kontinuierlichen Austausch von Wahrnehmung und Wiedergabe. Die Künstlerin versteht es, sich in die karge Landschaft einzufühlen, ihr die Liebreize zu entlocken und diese dem Betrachter zu vermitteln. Angesichts der Ästhetik dieser Weite, kann die bedingungslose Hingabe zur Natur und ihrer Reduzierung nachempfunden werden. Nicht jeder Besucher des Oderbruchs wird diesen Eindruck teilen, doch lässt sich auch nicht jeder Besucher gefühlsmäßig auf das ehemalige Sumpfland ein. Theodor Fontane wäre mit Sophie Natuschke und vielen anderen sicher in Streit gegangen. So urteilte er doch aus einer ganz anderen Empfindung heraus: „Der Anblick, den es [das Oderbruch], im Vorüberfahren, vom Fluß aus gewährt, ist weder schön und malerisch, noch verrät er eine besondere Fruchtbarkeit; gegenteils, das Vorland, das sich dem Auge bietet, macht kaum den Eindruck eines gehegten Stück Wiesenlands, während die Raps- und Gerstenfelder, die sich golden dahinter ausdehnen, dem Auge durch endlose Damm- und Deichwindungen entzogen werden.“[4] Die Arbeiten Natuschkes hätten des Dichters Augen sicher noch geschult, sodass auch der lineare Deich, die liederliche Kopfweide und das windgebeutelte Schilf ihre anmutige Erscheinung bewiesen hätten.
In gänzlich anderer Form stellt sich die Serie „bloss“ dar. Eher untypisch klar, erscheinen die in Acrylglas geritzten Linien. Eher untypisch mehrfarbig, sind beide Plattenseiten übereinander gedruckt. Eher untypisch figürlich, erscheinen die Motive. Die Reihe „bloss“ besteht aus Druckgrafiken, die Konturen oder Silhouetten menschlicher Körper abbilden, deren Haltung irgendetwas zwischen Entspannung und Verkrampfung charakterisieren. Oder ist es bloß die Blöße, die ein Wechselspiel zwischen Zurückhaltung und Präsentation hervorrufen? Wo entstehen Arbeiten, die reine Sinnlichkeit bedeuten und Verschwiegenheit fordern? In einem Schwitzbad! Die Saunagänger bieten einerseits das plastische Vorbild für die Darstellung – Die Künstlerin bürgt mit Zurückhaltung in fast finsterer Arbeitsbeleuchtung andererseits. Beobachter und Zurschausteller.
Und da ist es wieder das „andererseits“. Oder „anderseits“ oder „andrerseits“? Für die Formulierbeflissenen zur Beruhigung: Da schert sich kein Biber drum! Andererseits ist „anderseits“ die älteste Form dieses Adverbs und geht auf das mittelhochdeutsche „andersit“ zurück. Dem besagten Biber ist das egal, doch ist er das Haupt- und Einzelmotiv einer weiteren Druckgrafikserie. Die Reihe beschäftigt sich mit dem Prozess der Auflösung, des Vergehens und Verschwindens. Ausgangspunkt dieses Experiments, in dem Sophie Natuschke den natürlichen Prozess des Vergehens abbildet, war der Fund eines toten Bibers. Das Oderbruch wird diesen Kadaver verschlingen und die Künstlerin dokumentierte seine Auflösung täglich in zwei Radierungen. Noch vor dem vollständigen Zerfall beendete der Mähdrescher den natürlichen Prozess. Im Futter für Kühe verschwand der tote Biber. Sophie Natuschke sensibilisiert die Wahrnehmung durch Formen und Strukturen. Ihre Seherfahrung geht auf den Betrachter über und zieht ihn in einen eigentümlichen Bann.
Und das, nicht nur anderseits.
Christian Köckeritz